Nach dem Morgenessen nimmt Reto sein Natel und ruft in der Garage in der Nähe des Bahnhofs an. Es nähme ihn wunder, ob die Occasion von gestern noch zu haben sei. Ja, sagt der Garagist, er solle in 2 Stunden vorbeikommen.

Um sich die Zeit zu vertreiben, nimmt Reto im Bahnhofbuffet einen Apéro zu sich. Im Fernsehen läuft gerade Champion’s League. Der Match ist in den letzten Zügen. Kurz vor dem Abpfiff bekommt der Gegner noch einen Corner zugesprochen. Flanke auf den gegnerischen Stürmer – aber der Goalie hält.

Reto wendet sich der Serviertochter zu und fragt sie, warum sie heute schwarz angezogen sei. Sie sagt, sie müsse gleich zur Abdankung ihres Götti. Er sei letzte Woche mit seinem Trottinett verunfallt. Ein Lastwagen hätte ihn beim Rechtsabbiegen übersehen. Schlimme Nachricht. Reto überlegt, ob er den Mann gekannt hat. Sei ihr Onkel nicht der Bijoutier Beat S. gewesen, der im Nachbarort früher als Gmeindspräsident geamtet habe? Ja genau der, sagt die Seviertochter, das sei ihr Götti gewesen.

Reto ist getroffen. Jetzt brauche er erstmal einen Pflümli.

Was ist ein Helvetismus?

Unschwer zu erraten: Dieser Beitrag handelt von Helvetismen. Das sind sprachliche Besonderheiten, die

  • nur im Schweizer Hochdeutschen verwendet werden und im übrigen deutschen Sprachgebiet nicht anzutreffen sind (Beispiel: Müesli, parkieren)
  • ursprünglich aus dem Deutschschweizer Sprachgebiet stammen und sich über den gesamten deutschen Sprachraum ausgebreitet haben (Beispiele: Müsli (ohne -e), Putsch).

Helvetismen stammen zwar oft aus der Mundart und werden daher auch im benachbarten alemannischen Sprachraum verwendet (Beiz, Znüni, Trottoir). Viele Wörter sind auch aus dem Französischen entlehnt (Poulet, Coiffeur, Glace, Cervelat). Helvetismen sind aber keine Dialektausdrücke, sondern Varianten des Schweizer Standarddeutschen, das bei offiziellen Anlässen oder im Austausch mit deutschsprachigen Nicht-Schweizern gesprochen wird.

Warum es nicht das eine Hochdeutsch gibt

„Deutschländische“ Deutschsprachige (zur Herkunft des Wortes „deutsch“ lesen Sie bitte diesen Beitrag) wissen oft nicht, dass es kein normiertes Hochdeutsch gibt, weil das Deutsche keine einheitliche Sprache ist. Es gibt regionale und nationale Ausprägungen des Hochdeutschen, die sich aus dem unterschiedlichen Verlauf der Sprachgeschichte ergeben, aber auch aus Unterschieden in Gesellschaft, Kultur und Politik.

Schweizer Hochdeutsch (dort meist Standarddeutsch genannt) existiert also gleichrangig neben dem deutschen Hochdeutsch. Es gibt nicht für jeden Begriff ein gemeindeutsches Wort, das man in jeder Sprachregion benutzen könnte. Beispiel: Der österreichische, nord- und mitteldeutsche Fleischer entspricht dem schweizerischen, westösterreichischen, westmittel- und süddeutschen Metzger. Wobei der Fleischer in Teilen Nord- und Mitteldeutschlands auch Schlachter und in einigen Gegenden Österreichs auch Fleischhauer heißt. Eine richtige oder falsche Berufsbezeichnung gibt es sind; richtig ist immer, was in einer Region als richtig gilt.

Dabei geht es nicht nur um Wörter, sondern auch um einen anderen Gebrauch der Artikel, andere Bedeutungen, eine andere Grammatik und eine andere Aussprache. Eine Liste von Helvetismen finden Sie hier.

  • Wortschatz: Morgenessen (Frühstück), Natel (Handy), Garage (Autowerkstatt), Occasion (Gebrauchtwagen), Garagist (Werkstattinhaber), Bahnhofbuffet (Bahnhofsrestaurant), Apéro (Aperitif), Match (Spiel), Corner (Eckball), Penalty (Elfmeter), Goalie (Torhüter), Serviertochter (Kellnerin), Götti (Pate), Trottinett (Tretroller), Bijoutier (Juwelier), Gmeindspräsident (Bürgermeister), amten (ein Amt ausüben, amtieren), Pflümli (Pflaumenschnaps)
  • Wendungen, Konstruktionen: Es nimmt jemanden wunder, ob (es interessiert jemanden, ob), am Fernsehen (im Fernsehen), verunfallen (einen Unfall erleiden), in den Ausgang gehen (ausgehen), handkehrum (plötzlich, andererseits), ausjassen (aushandeln), bachab schicken (etw. verwerfen)
  • Artikel: das E-Mail, das Tram, das SMS
  • Orthografie: In der Schweiz gibt es kein -ß. Das kann für Deutsche verwirrend sein, wenn die Stadt in hohem Masse Bussen für falsch parkierte Busse einnimmt.
  • Bedeutung: Abdankung (Trauerfeier), Estrich (Fußboden), harzig (zäh, langsam)
  • Aussprache: In der Schweiz spricht man das -g am Ende von König tatsächlich wie ein g, und nicht wie in Norddeutschland  „Könich“. Viele Fremdwörter, Länder und Abkürzungen werden auf der ersten Silbe betont, z. B. Apostroph, Balkon, Billet, Budget, Büro, WM, EU, Irak, Iran.

 

Austriazismen und Teutonismen

Da es keine verbindliche Sprachnorm gibt, findet man neben schweizerischen Helvetismen auch österreichische (Austriazismen) und „deutschländische“ Varianten (Teutonismen) des Hochdeutschen.

  • Beispiele für Austriazismen sind: Obmann (Vorsitzender), Verlassenschaft (Nachlass), Matura (Abitur), Rauchfang (Kamin), Kren (Meerrettich).
  • Beispiele für Teutonismen sind: Abendbrot, Apfelsine, Eierkuchen, lecker, pellen, rote Bete, Mülleimer, Schnürsenkel, Kneipe, Tüte, Küster.

Wenn Sie als Deutscher also im Zürcher (ohne -i!) Bahnhofbuffet nach „lecker Eierkuchen“ fragen oder gar „rote Bete mit Pellkartoffeln“ (statt Randen mit Härdöpfeln) bestellen, dann wundern Sie sich nicht, wenn die Serviertochter die Augen verdreht.

Und sagen Sie um Gottes Willen nicht: „Ich bekomme …“, da verstehen die Schweizer bekanntlich keinen Spaß. Kleiden Sie Ihre Bestellung in möglichst viel „dürfte“, „hätte“, „könnte“, „wenn’s keine Umstände macht …“

Damit zeigen Sie, dass Sie die Schweizer Kommunikationskultur wirklich verstanden haben …